Durch den wilden Norden

Das Kanu ist im Wasser, das Gepäck wieder an Bord. Wir haben alles über Land geschleppt, um den letzten Damm mit einem Elektrizitätswerk auf unserer Tour zu überwinden. Vor uns liegen noch etwas mehr als ein-ein-halb Stunden bis zum Campingplatz in Lit im schwedischen Norden. Hinter uns liegen sieben Tage und 110 Kilometer auf dem Harkan, einem Fluss, der sich von See zu See durch diese in Europa wohl einzigartige Wildnis schlängelt.

Jämtland heisst die Gegend hier oben rund um das Städtchen Östersund. Nur wenige Kilometer weiter im Norden beginnt Lappland. Laut einer Legende von Riesen geschaffen, ist die waldige und hüglige Landschaft mit Seen und Flüssen bis heute nur dünn besiedelt. Ausserhalb der wenigen Orte ist es menschenleer. Wir treffen auf unserer Tour nur beim Umtragen von Dämmen oder Wasserfällen sporadischen jemanden. Sechs Personen zählen wir am Ende. Es ist die Einsamkeit und Wildnis nach der wir suchten.

Ein „Canyon“ ist per Hand auf unserer topografischen Karte eingezeichnet, die wir auf dem Campingplatz ausgeliehen haben. Gemütlich gleiten wir dahin. Wir sitzen im Boot. Die Wildwasserstellen, die Paddeln im Knien erforderlich machen, liegen hinter uns. Das sagt zumindest die Karte. Die Realität sieht nach einer schlecht einsehbaren Kurve freilich ganz anders aus. Hohe Felswände erwarten uns. Das Flussbett wird enger. Das Wasser nimmt Fahrt auf und wir mit ihm. Erste weisse Wellenkämme lassen sich ausmachen. Der Fluss wird immer unruhiger.

Stehende Wellen mit tiefen Mulden dahinter deuten auf große Felsbrocken unter Wasser hin. Ruhe bewahren, absprechen mit lauter Stimme um gegen das immer stärker werdende Rauschen anzukommen. Hinknien? Dazu ist es zu spät und das Kanu zu unruhig. Eine Linie suchen. Sich für einen Weg entscheiden. „Paddel kräftig“ – wiederhole ich immer wieder und steuere hinten so gut es geht. Es spritzt, es ruckt, es schwankt.

Nur nicht kentern. Denn an Land gehen ist hier in der Felsschlucht nicht möglich. Meine Frontfrau hebt sich mit der Spitze des Kanus, verschwindet dann in den Wellentälern, um ebenso schnell wieder in die Höhe zu schnellen. So geht das eine gefühlte Ewigkeit. Bis plötzlich, nach einer erneuten Kurve, alles vorbei ist. Spiegelglatt liegt der Harkan vor uns. Fliesst dennoch zügig. Ruhe und Wälder begleiten uns, bis irgendwann die Eisenbahnbrücke auftaucht. Das Zeichen dafür, dass wir rechts hinüber müssen, zum Strand das Campingplatzes. Wir haben es geschafft. Zurück in der Zivilisation.

Er hat sich gut geschlagen „unser LKW“, wie wir das viel zu große, dreisitzige Kanu mit seinen knapp 40 Kilogramm Gewicht, auf der Tour getauft haben. Das grüne Monster aus dem Bootsverleih am Camping war eine Notlösung. Es ist behäbig und beim Umtragen eine Qual. Doch unser norwegischer Faltcanadier hatte uns beim Aufbau im Stich gelassen. Eine Aluminuimstange brach. Ein Produktionsfehler, sollte sich später herausstellen. Zum Glück hatte Uwe – der Fahrer, der uns vom Camping in Lit bis fast an die norwegische Grenze zum Ausgangspunkt gebracht hatte – wenige Kilometer entfernt ein Kanu liegen, dass er uns überließ. Der Faltcanadier fuhr mit ihm auf dem steinigen Waldweg von dannen, zurück zum Campingplatz.

Uwe gab uns noch ein paar Hinweis mit auf den Weg: „Nie weiter als 25 bis 30 Meter vom Ufer entfernt fahren“, sagte er. Das Wasser sei dieses Jahr kalt, sehr kalt. „Wenn ihr kentert, habt ihr weniger als zehn Minuten bis zur Kältestarre und damit zum Ertrinken“, warnt er uns. Es war ein ungewöhnlich verregneter und besonders kalter Sommer hier oben im schwedischen Norden. Vorteile habe das aber auch, meinte Uwe dann noch: „Der Wasserstand ist 30 bis 40 Zentimeter höher als sonst.“. Die Wildwasserstellen seien dadurch schneller, aber auch leichter zu befahren, da keine Felsen aus dem Wasser ragen würden.

Wildwasser, das war unsere größte Sorge. Wir waren noch nie zuvor Stromschnellen gefahren, wie sie uns hier auf dem zweiten Teil der Tour erwarteten. Immer wieder hatten wir unser, auf einem Kurs in Polen im Frühjahr zuvor erworbenes Wissen für fließende Gewässer durchgesprochen. Wer was machen muss, wie die Kommandos lauten.

Doch das Problem sollte ein ganz anderes sein. Der Wind. Das Tal des Harkan verläuft gegen Osten. Von den norwegischen Bergen, die wir verschneit in einiger Entfernung sehen können, kommt der Wind herab. Vor allem in der zweiten Tageshälfte, wenn die Sonne scheint und für Temperaturunterschiede und Thermiken sorgt. Manchmal sind die Wellen auf den Seen so hoch, dass sie über die Bordwand schwappen und wir die Tour bereits am frühen Nachmittag abbrechen müssen. Wir schlagen dann das Tipi auf und geniesen die Ruhe und die Einsamkeit. Lassen den Blick über das Wasser schweifen.

Einen Tag sitzen wir nur einen halben Kilometer von einem Damm entfernt fest, wo wir auf der anderen Seeseite aussetzen und die Ausrüstung umtragen müssen. Wir hocken vor unserem Tipi kochen einen Kaffee nach dem anderen und können es nicht glauben. Zum Greifen nahe und doch zu fern um hinüber zukommen. Am nächsten Morgen entschädigt uns ein spiegelglatter See für unsere Geduld.

„Wann seit ihr zurück?“, hatte uns Uwe gefragt, als er uns alleine ließ. „In fünf Tagen“, waren wir uns sicher. „Na ja, ich schreibe mal sieben auf“, hatte er geantwortet. Spätestens an jenem Tag wurde uns klar, warum.